Mittwoch, 2. Juli 2008

Credit Suisse widmet dem Osten ein ganzes Heft des Kundenmagazin: Vastu, Ostung im abendländischen Kirchenbau, Vitruvius und mehr

In ihrem Kundenmagazin hat die Schweizer Bank Credit Suisse mit ihrem Bulletin 4/07 ein ganzes Heft dem Thema "Der Osten" gewidmet.
Zur Einleitung des Bulletins scheibt sie:
"Wo bin ich? Wohin gehe ich? Die Frage nach der eigenen Position treibt die Menschheit seit Urzeiten an. Als feste Ausrichtung hält sich die Konstante der Osten - wo die Sonne aufgeht. Architektur, Navigation, das alltägliche Leben richten sich nach der ,Mutter aller Himmelsrichtungen´".

Hier der Artikel von Regula Gerber aus dem emagazine der Credit Suisse:
http://emagazine.credit-suisse.com/app/article/index.cfm?fuseaction=OpenArticle&aoid=203724&lang=DE

Im Osten viel Neues

05.11.2007 Schon seit Jahrtausenden haben Himmelsrichtungen für die Architektur eine grosse Bedeutung; ein System wie dieses bildet für den Menschen eine Orientierung für Raum und Leben. Als feste Konstante hält sich die Ausrichtung nach Osten, und das über die unterschiedlichsten Zeitalter und Kulturkreise hinweg. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Dem Ort, wo die Sonne aufgeht, kommt besondere Bedeutung zu: Die Sonne ist Lebens- und Lichtspenderin, sie teilt den Tag, den Monat und das Jahr in vom Menschen nicht beeinflussbare Zyklen ein. Diese Erkenntnis hat über Jahrtausende hinweg Alltag, Religion und dadurch auch die Architektur unterschiedlichster Kulturen wie beispielsweise die der Inder, Chinesen, Römer oder Griechen geprägt. Archäologische Untersuchungen und Ausgrabungen zeigen, dass diesen antiken Hochkulturen zwar ein einheitliches Wissen zu Grunde liegt. Doch hinter ihrer Architektur und vor allem hinter der Ausrichtung eines Bauwerks nach Osten stehen unterschiedliche Motive und Mechanismen: Während das Prinzip für manche Kulturen eine metaphysische Verbindung zwischen Architektur und Spiritualität darstellt, hat es für andere vorwiegend gesundheitliche oder funktionelle Gründe.

In Richtung Macht und Stärke

Die Gelehrten des Okzidents und des Orients besassen eine ausgeprägte Fähigkeit zur Beobachtung der natürlichen Phänomene. Dazu gehörte auch das Studieren der Gesetzmässigkeiten des Kosmos, besonders der Gestirne. Das Ziel von Kulturen wie der chinesischen oder indischen ist es, die Lebensqualität zu verbessern, indem der Mensch mit den Kräften der Natur in Harmonie und Balance lebt. Deshalb spielen in Architekturlehren wie dem chinesischen Feng Shui oder dem indischen Vastu die Himmelsrichtungen und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit eine wichtige Rolle. Der Sonnenstand, also die Richtung Osten, erweist sich besonders in der Architektur des Vastu als sehr bedeutend. Gemäss Historikern ist diese Lehre auf einen Zeitraum zwischen 6000 und 7000 vor Christus zu datieren. Im Indien der Antike war Vastu ein Bestandteil des täglichen Lebens. Sowohl Städte, Paläste, Tempel und private Wohnhäuser als auch Theater und Wehranlagen wurden nach seinen Prinzipien erbaut. Die Vastu- Architekturlehre basiert massgeblich auf den Eigenschaften der Himmelsrichtungen. Sowohl beim Entwurf eines Gebäudes wie auch bei der Anordnung seiner Bereiche wird jeder Himmelsrichtung eine individuelle Qualität zugesprochen. Sie beeinflusst alles, was sich in dieser Richtung befindet oder bewegt.

Besondere Bedeutung wird dem Osten und den Nebenrichtungen Nord- und Südosten beigemessen. Dem Osten wird in der Vastu-Lehre die erste Position unter den Himmelsrichtungen eingeräumt, weil die Sonne mit ihrer Energie in dieser Richtung aufgeht. Sie gilt als die beste Himmelsrichtung, steht für Reichtum und Wohlstand und wird als die väterliche Richtung bezeichnet. Und sie wird von Indra beherrscht, dem Herrscher der Halbgötter, der Macht und Stärke verkörpert. Vastu hat schon früh erkannt, dass das Licht der Morgensonne besonders positiven Einfluss auf den Organismus hat. Darum ist die Sonne aus dem Nord- und Südosten besonders beachtet. Olivera Reuther, diplomierte Ingenieurin der Architektur aus Berlin, hält sich beim Planen an die Vastu-Architekturlehre. Was das im Praktischen heissen kann, führt sie so aus: "Die Morgensonne sollte direkt auf Grundstück und Haus strahlen und deswegen der nordöstliche, östliche und südöstliche Teil des Grundstücks nicht bebaut werden. Günstig ist, wenn der Haupteingang eines Hauses nach Osten gerichtet ist. Hier sollten auch die Fenster grösser und zahlreicher als in den anderen Himmelsrichtungen ausfallen. Bereiche wie Bad und Küche, in denen besondere Reinlichkeit gefordert ist, werden vorzugsweise im Osten respektive Südosten eines Gebäudes eingeordnet. Zu empfehlen ist es auch, dass der Kopf beim Schlafen, Essen, Kochen oder Meditieren in Richtung Osten weist." In Indien erlebt Vastu zurzeit ein Revival, und auch in der westlichen Welt wächst das Interesse, besonders in Verbindung mit Ayurveda. Die uralte Lehre ist noch perfekt in Bauwerken wie zum Beispiel in Madurais Tempelstadt in Südindien erhalten.


"Oriens" und "anatolae"
Während von den vedischen Schriften heute nur noch ein Teil existiert, blieb ein Werk über Architektur aus dem Altertum umfänglich erhalten: "Zehn Bücher über Architektur", geschrieben von Marcus Vitruvius Pollio (um 33 v. Chr.) zur Zeit des Kaisers Augustus, war für die Architekturtheorie der abendländischen Baukunst wegweisend. Auch Vitruv forderte die Ausrichtung des Hauses und der Städte nach dem Sonnenverlauf und den Windrichtungen. Doch standen bei der Profanarchitektur - also Bauten, die im Gegensatz zu Sakralbauten für weltliche Verrichtungen genutzt wurden - pragmatische Gründe im Vordergrund; Faktoren wie Territorium, Bedürfnisse des Bewohners oder Naturgegebenheiten bildeten die entscheidende Grundlage für die Bauweise. Das Ziel war richtiges und gesundes Bauen. So empfahl Vitruv, Stadtmauern nicht nach den kalten oder heissen, sondern den gemässigten Himmelsrichtungen Osten und Westen zu orientieren, damit günstige Winde durch die Strassen wehen und somit die Häuser geschont werden konnten. Geostet hingegen hätten beispielsweise Schlafzimmer und Bibliotheken zu sein, "denn ihre Benutzung erfordert die Morgensonne". Bei Sakralbauten, also Bauwerken wie Altären und Tempeln, kam dem Osten eine wichtige Bedeutung zu: "Wenn kein Grund im Wege steht und man freie Hand hat, sollen der Tempel und das Götterbild zur abendlichen Richtung (nach Westen) gerichtet sein, damit diejenigen, die sich zum Opfer oder zu gottesdienstlichen Handlungen dem Altar nahen, nach Osten und zum Götterbild blicken."

Die östliche Ausrichtung fand sich nicht nur bei den Römern und Griechen, sondern auch bei anderen Kulturen, die im Mittelmeerbecken ein Jahrtausend vor und bis zum Christentum existierten. Als eines der wichtigsten Elemente im Heiligtum der Antike galt dabei der achsial nach Osten ausgerichtete Altar. Die Kultstatue wurde nach Osten blickend im Tempel aufbewahrt. Dieser sollte dort, wo es das Territorium erlaubte, mit dem Hauptzugang geostet werden. Ostung, wörtlich "Orientierung", stammt vom lateinischen "oriens" und heisst aufgehend, während bei den Griechen Himmelsaufgang "anatolae" bedeutet. "Für beide, Römer wie Griechen, stellte die Ost-West-Achse ein wesentliches Moment des religiösen Denkens und eines spezifischen Kulturverständnisses dar", erläutert Christian Russenberger, Archäologe an der Universität Zürich. "Das hatte seinen Ursprung in den Vorstellungen von der Welt und der Zivilisation. So waren die Griechen der Meinung, dass ihnen die Kultur von Osten her gebracht wurde, was teilweise auch stimmte. Von manchen Gottheiten wie Dionysos bestand die Vorstellung, sie seien aus dem Osten eingewandert - obwohl es sich faktisch um genuin griechische Gottheiten handelte.

Die östliche Himmelsrichtung wurde einerseits als Stätte der Kulturwerdung und -entstehung verstanden. Andererseits betrachteten sie die Griechen auch als Ort, dessen gute klimatische Bedingungen zu Verweichlichung und Dekadenz führten. Demgegenüber galt der Westen aufgrund seines rauen Klimas als besonders unzivilisiert. Griechenland sah sich also in der Mitte als gerade massvoll und richtig orientiert."

Der Garten Eden
Zwar finden sich bei Vitruv Angaben zur Ostung, doch insgesamt wurde das Prinzip - wie im Übrigen auch die Religion - nicht so dogmatisch ausgelegt wie in der christlichen Baukunst. Dort hatte die Ausrichtung nach Osten schon immer einen hohen Symbolwert. In der Frühzeit bereits legten die Christen ihr Taufversprechen gegen Osten ab, während sie ihr "Ich widersage Bösem" in die Richtung des Sonnenuntergangs sprachen. Damals war es zunächst wichtig, dass das Licht durch die Tür von Osten in den Kircheninnenraum fallen konnte. Später jedoch wurde der Altar als der wichtigere Teil der Kirche angeschaut, weil dort die feierlichsten Handlungen der Messe stattfanden. Spätestens seit dem 8./9. Jahrhundert wurden deshalb die christlichen Gotteshäuser umgedreht. Die Längsachse verlief nun in der Regel von Westen nach Osten, sodass der Chor und der Altar nach Osten wiesen und sich der Haupteingang im Westen befand. In der heutigen Liturgie blickt der Priester zwar in die Richtung der Gläubigen, früher jedoch schaute er in Richtung Osten. Sogar bei Bestattungen in der Kirche und auf Friedhöfen zeigte das Gesicht des Toten üblicherweise nach Osten. Da die Sonne im Jahreslauf nicht immer an der gleichen Stelle aufgeht, sind einige Kirchen sogar auf den Aufgangspunkt eines bestimmten Tages hin geostet. Beim Stephansdom in Wien etwa ist es der 26.Dezember 1137 (der Tag des Patrons der Kirche im Jahr des Baubeginns).

Lothar Schmitt ist Architekturhistoriker an der ETH Zürich. Er sieht für die Ostung folgende Gründe: "Der Bau einer Kirche sollte nach mittelalterlicher Interpretation ein Abbild der Himmelssphäre sein. Im Alten wie im Neuen Testament gibt es Erwähnungen, in denen der Messias als 'der Mann mit dem Namen Oriens' oder 'die Sonne der Gerechtigkeit' (sol iustitiae ) bezeichnet wird. Dementsprechend war der Sonnenaufgang im Osten ein Bild für den auferstandenen und wiederkommenden Christus." Isidor von Sevilla, ein bedeutender Autor an der Wende von der Antike zum Mittelalter, überlieferte die Vorstellung, dass der Himmel zwei Türen im Osten und Westen habe, durch die das Licht der Sonne ein- und austrete. Im mittelalterlichen Schema des Weltbildes vermutete man das Paradies ganz im Osten. Weil die Christen dorthin streben, würden sie sich, so der Theologe Honorius von Autun, in diese Richtung wenden.

"Soleil, Espace, Verdure"
Auch moderne Kirchen sind wenn immer möglich geostet. Ein berühmtes Beispiel dafür stellt die Wallfahrtskirche in Ronchamp von Le Corbusier dar. Der 1887 in La Chaux-de-Fonds geborene französisch- schweizerische Architekt, noch heute ein Leitstern der Moderne, galt als der "Sonnenanbeter" par excellence. Bruno Maurer, Architekturhistoriker an der ETH Zürich, beschreibt ihn als Naturphilosophen: "Le Corbusier glaubte stark an die Kraft der Natur. Deshalb waren der Sonnenverlauf, die Sonne und die Orientierung danach sehr zentral für sein Schaffen. Davon zeugen nicht nur fast alle seine Werke, sondern auch Schriften zu Architektur und Städtebau. Eine seiner eingängigen, viel zitierten Formeln lautet 'Soleil, Espace, Verdure' ('Licht, Luft, Öffnung'). 1942 schreibt er sogar explizit: 'La journée solaire de 24 heures est la mesure de toutes entreprises urbanistiques.' Er meinte damit die Orientierung an Tag und Nacht als Mass aller städtebaulichen Massnahmen."

Die Argumente holte sich die Moderne nicht zuletzt aus dem verpönten 19. Jahrhundert: Am Ende dieses Jahrhunderts nimmt die Architektur die Erkenntnisse der Hygienebewegung auf. Diese hatte die Bekämpfung von Tuberkulose und anderen schweren Krankheiten zum Ziel. Im Zuge wissenschaftlicher Forschung war die Bedeutung der Sonneneinstrahlung erforscht und dabei der positive Einfluss auf die Gesundheit des Menschen bewiesen worden. "Diese Erkenntnisse sollten entsprechend in die Bauweise und Ausrichtung der Gebäude einfliessen", so Maurer. "So kommen die neuen Bauweisen nicht mehr primär Repräsentations- oder Statuszwecken entgegen, sondern werden den gesundheitlichen Anforderungen gerecht. Die Himmelsrichtung Osten wird immer da gefordert, wo keine extremen Einstrahlungen erwünscht sind. Das ist zum Beispiel im modernen Schulbau der Fall, wo die empfohlene Himmelsrichtung Ost -Ost-Süd ist. Oder im Wohnungsbau: Hier werden neue städtebauliche Typologien wie der Zeilenbau propagiert, der bei Nord -Süd-Ausrichtung Wohnungen hervorbringt, die von Morgen- oder Abendsonne oder beidem profitieren."

Doch welchen Stellenwert hat die Ostausrichtung heute noch in der Architektur? Dazu meint Maurer: "Tatsächlich wird die heutige Architektur entscheidend durch neue technische Entwicklungen und Standards wie beispielsweise Isolierglas und Solarzellen beeinflusst. Trotzdem berücksichtigt jeder intelligente Architekt den Sonnenverlauf in der Positionierung des Hauses und der Disposition der Räume. Das Schlafzimmer nach Osten und zur Morgensonne hin, die Loggia gen Westen zum Geniessen des Sonnenuntergangs macht auch 2000 Jahre nach Vitruv noch Sinn."

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